„In einer Stunde fliegen wir los Richtung Grimma. Wir brauchen zwei Leute, die Hubschrauber sind startklar“. Wenn Gerd Windhausen einen Anruf bekommt, dann muss es schnell gehen. Der 52-jährige Bad Wildunger ist Luftretter bei der Bergwacht in Bad Wildungen und Technischer Leiter der Bergwacht Hessen.
Nur wenige Minuten nach dem Anruf saßen er und ein weiterer Kamerad in einem Polizeihubschrauber auf dem Weg ins Hochwassergebiet von Sachsen. In 2013 war das. Da hat Gerd gemeinsam mit einem weiteren Bergwachtkollegen, den Polizeibeamten der Bundespolizei Fliegerstaffel Fuldatal und den Wasserrettern der DLRG Leben gerettet. Von Menschen und Tieren. „Die Bundespolizei wollte mit zwei Hubschraubern – einer EC 155 und einer Superpuma – von Fuldatal aus ins Einsatzgebiet fliegen und hatte dabei jeden Hubschrauber mit einem Bergretter und einem Wasserretter besetzt“, erinnert sich Gerd, als ich in an diesem Samstagmorgen im März für die Berichterstattung anlässlich unserer Serie in seinem Heimatort Odershausen bei Bad Wildungen besuche.
Wie wir ziemlich zu Anfang unseres Gespräches auf jenen Hubschraubereinsatz zu sprechen gekommen sind, weiß ich gar nicht mehr so genau. Gerds Erlebnisse sind aber so interessant, dass ich einfach nur zuhöre und immer mehr dazu frage. „Wir haben zunächst sämtliche Verfahren geprobt. Wir wussten ja gar nicht, was auf uns zukam“, erinnert sich Gerd noch. Nachdem das alles gewohnt professionell abgelaufen war, ging es für den Odershäuser direkt ins Schadensgebiet. „Wir mussten zu umspülten Dörfern, die völlig von der Außenwelt abgeschnitten waren, fliegen und dort Verbindungen zur Außenwelt herstellen. Die Telefone funktionierten lange nicht mehr“, erinnert sich Gerd. Mit dem Polizeihubschrauber ist er in die abgeschnittenen Dörfer geflogen worden. „Wir sind dann gelandet, oder wurden abgewincht und haben bei den Leuten gefragt, ob sie medizinische Hilfe benötigen, ob Lebensmittel knapp werden, oder sie Infrastruktur brauchen“, erklärt er. Deichexperten haben sie ins Schadensgebiet gebracht, damit sie die Lage beurteilen und Hilfe organisieren konnten. Und sie haben Menschen und Tiere vor dem Ertrinken gerettet.
"Mit dem Absaufen von unten hatte niemand gerechnet" (Gerd Windhausen, Bergretter)
„Das war eine Gehöftgruppe bei Gruna, diese Familien mussten wir evakuieren“, berichtet Gerd mir. „Eigentlich“, so fährt er fort, „wollten diese Leute in ihren Höfen bleiben. Sie hatten nicht gedacht, dass die Wassermassen bei dem enormen Druck auf die Deiche auch aus dem Erdreich kommen“, erinnert er sich. „Mit dem Absaufen von unten hatte keiner gerechnet“, bringt er es auf den Punkt. Heute noch schwärmt Gerd vom Können des damaligen Polizeipiloten: „Der hat den Hubschrauber in Millimeterarbeit auf dem Deich gelandet. Wenn zwei Meter Abstand vom Rotor zur Laterne bestanden haben, war es viel“, berichtet er. „Das war absolute Maßarbeit“. Gemeinsamt mit dem Wasserretter der DLRG war Gerd nach der Landung auf sich alleine gestellt. Es galt, eine schwerst Pflegebedürftige Frau vor den Wassermassen zu retten. Sie lag zu dieser Zeit noch in ihrem Pflegebett in einem Bauernhof, der regelrecht abzusaufen drohte. „Irgendwo haben wir ein Kanu gefunden. Das haben wir uns dann genommen und sind zu dem Haus gefahren. Die Frau war wirklich schwerstpflegebedürftig und an einen anderen Transport, als im Liegen war gar nicht zu denken“, erinnert er sich. Also sind die Männer los, haben irgendwo einen Krankenwagen gesucht und sich aus diesem Wagen eine Schaufeltrage, ein spezielles Rettungs- und Transportgerät, ausgeliehen. „Wir sind dann wieder zu der Frau gepaddelt und haben festgestellt, dass sie mit der Schaufeltrage nicht ins Kanu passt“, beschreibt Gerd die nächste Schwierigkeit. Die Retter haben dann auf einem Nachbargrundstück einen eingeklappten Tisch einer Gartenmöbelgarnitur gefunden. „Den haben wir umgedreht auf das Kanu gelegt und die Frau mit der Schaufeltrage darauf. Ich war dann bei der Patientin und der Wasserretter hat uns mit dem Kanu zum Hubschrauber gebracht“, beschreibt Gerd die Rettungsaktion der Dame. „Wir haben alles mitgenommen. Hunde und Katzen, viele Erwachsene. Die Kinder waren zum Glück schon weg“, erinnert er sich. „Die einzigen, die wir da gelassen haben, waren die Schafe. Die standen auf dem Deich und konnten da Gras fressen. Die waren nicht in Gefahr“, erklärt Gerd mir.
„Die Menschen waren so unheimlich dankbar“, weiß Gerd noch heute. „Wir konnten vor Ort zwar keine persönliche Bindung aufbauen, die Zeit drängte ja sehr und wir mussten von einem Einsatz zum nächsten“, erinnert er sich. Umso mehr hat der Bergwachtmann sich über die lieben Dankesschreiben gefreut, die nach der Hochwasserkatastrophe angekommen sind. Das kann er auch in unserem Gespräch nicht verbergen. Das geht ihm nahe. Auch noch sieben Jahre später.
Völlig beeindruckt von diesen Schilderungen vergesse ich beinahe, all meine Fragen zu stellen, die ich mir für Gerd überlegt hatte. Beim Thema „Hubschrauber“ geraten wir beide schnell ins Schwärmen und vergessen die Zeit. Wir kennen uns von dutzenden von Windentrainings und schweifen immer mal wieder vom eigentlichen Thema ab, haben gemeinsame Bekannte bei der Südtiroler Landesflugrettung, oder dem Südtiroler Bergrettungsdienst, waren beide in derselben polnischen Gegend unterwegs, ohne es zu wissen. „So klein ist die Welt“, stellen wir gemeinsam fest und kommen nach einer ganzen Weile nun doch wieder auf unser eigentliches Thema zurück.
Ich möchte von Gerd wissen, was eigentlich die alltäglichen Aufgaben der Wildunger Bergwacht hier sind. „Wozu brauchen die eine Bergwacht?“, hatte mich ein Kumpel kürzlich noch gefragt.
Weit verbreitetes unwegsames Gelände
Gerd erklärt es mir: „Zum Beispiel im gesamten Nationalpark Kellerwald-Edersee gibt es viele Wanderwege, die mit Autos schlichtweg nicht erreichbar sind. Wenn da ein Mensch Hilfe braucht, kann der Rettungsdienst alleine das einfach nicht leisten“, macht er deutlich. Gerd kann aus beiden Blickwinkeln berichten: In seinem Hauptberuf arbeitet der 52 Jährige als Notfallsanitäter im DRK Kreisverband Bad Wildungen als stellvertretender Rettungsdienstleiter und auch im Einsatzdienst und kommt so für beide Institutionen regelmäßig zum Einsatz. Erinnern kann er sich nach 35 Bergwachtjahren noch an eine ganze Reihe von Notfällen: „Wir mussten mal eine Patientin vom Wüstegartenturm abseilen. Die Frau musste in jedem Fall liegend transportiert werden und man hätte sie anders nicht vom Turm bekommen“. Gerd beschreibt mir die die Tücken der Erreichbarkeit: „Der Turm war für den Rettungsdienst mit dem Auto einfach nicht zu erreichen. Die Kollegen mussten etwa 500 Meter zu Fuß zurücklegen, bei gut einhundert Höhenmetern Anstieg. Und dann noch mal den Turm hoch bis zur Aussichtsplattform und dort die Patientin versorgen“. Eine Tatsache, die man sich kaum vorstellen kann. Und trotzdem: Immer wieder kommt es zu solchen Einsätzen. „Wir haben kürzlich einen schwerstverletzten Forstarbeiter aus dem Wald gerettet, oder eine Frau mit Knöchelfraktur vom Ettelsberg in Willingen geholt“, erzählt Gerd. Auch der Einsatz bei einer Reanimation in einer Windkraftanlage ist dem Familienvater noch in Erinnerung. „Unsere Einsätze erfolgen nicht nur in Waldeck-Frankenberg. Wir werden auch immer wieder aus den Nachbarkreisen angefordert, was uns sehr freut“, berichtet er mir. Besonders stolz ist Gerd auf das exzellente Notrufkonzept im Nationalpark vor seiner Haustür: „Wir haben zusammen mit dem Nationalpark den gesamten Park mit Rettungspunkten ausgestattet. Wenn der Anrufer, der oftmals nicht von hier stammt, einen Notfall meldet, sieht er auf den Wanderwegen alle paar Meter einen Rettungspunkt und kann den angeben. Das funktioniert richtig super“, ist Gerd begeistert und kann berichten, dass die letzten Notrufe allesamt nur über diese Punkte erfolgt sind. „In der Bergrettungswache haben wir Detailkarten und wir können jedem Rettungspunkt nicht nur die zugehörige Route, sondern auch den genauen Standort zuordnen. Das spart sehr viel wertvolle Zeit“, macht er deutlich.
Viele Jahre bis zum Luftretter
Nicht nur im „normalen“ Bergwachtdienst ist Gerd Windhausen engagiert. Der Odershäuser ist auch Technischer Leiter der gesamten Bergwacht Hessen und damit für die medizinische und einsatztaktische Ausbildung der Bergwachtler verantwortlich. Und die dauert ganz schön lange: „Wenn wir jemanden haben, der wirklich Gas gibt und motiviert und voller Elan dahinter steht, ist der frühestens in drei Jahren eine fertige Einsatzkraft“, rechnet Gerd vor. Winterrettung, Sommerrettung, Sanitätsdienstausbildung, Notfallmedizinausbildung – alles das muss ein Bergwachtler lernen und beherrschen. Hinzu kommen auch Naturschutzaufgaben, die von einem eigenen Referenten vermittelt werden. „Aber das ist nicht alles“, gibt Gerd Windhausen zu bedenken. „Der Bergwachtler muss klettern können, er muss Skilaufen können und vor allem körperlich sehr fit sein“, nennt er mir die Voraussetzungen, überhaupt bei der Bergwacht mitmachen zu können. Wer das noch nicht kann, der kriegt es bei der Bergwacht beigebracht. Nach der anfänglichen Ausbildung können die Bergwachtler sich noch weiter qualifizieren und zum Beispiel Einsatzführungsaufgaben übernehmen, oder Luftretter werden.
„Das ist mit Absicht so gemacht, um viel Erfahrung und Wissen zu vermitteln, bevor man solche Aufgaben übernimmt“, erklärt mir Gerd und macht deutlich: „Wenn ein Bergretterteam in den Einsatz geht, ist es oft auf sich allein gestellt. Dann kann man zwar einen Notarzt nachbestellen, aber der kommt nicht, weil er dort nicht hinkommt“. Das führt mir vor Augen, was es eigentlich heißt, bei der Bergwacht zu sein. Das idyllische, heldenhafte, was man im Fernsehen sieht, wird man hier nicht finden. „Das ist die Königsdisziplin“, macht Gerd deutlich.
Auch, wenn er in der Funktion als Technischer Leiter einen sehr verantwortungsvollen Posten ausübt, und die Bergwacht Hessen auch im Bundesausschuss der Technischen Leiter vertritt, oder die Bergwacht Deutschland in der Luftrettungskommission der IKAR (Internationale Kommission für alpines Rettungswesen) repräsentiert und weltweit Fortbildungen besucht, ist der sympathische Mann nicht abgehoben oder hochnäsig. Ganz im Gegenteil.
Ich frage ihn, was ihm an der Bergwacht am meisten gefällt: „Die unheimlich entspannten Patienten“, sagt er mir und lacht. „Da ist ein Biker mit `ner Pedale in der Wade der sagt „macht ein Pflaster drauf und es ist wieder gut“, lacht Gerd. „Das ist einfach schön, wenn man mit den Patienten gut, liebevoll und pfleglich umgehen kann. Das ist viel mehr Wert, als eine Medikamentengabe. Da erreichst Du mehr, als mit Chemie“, erklärt er mir. Gerd lächelt. Das macht ihm Spaß. Gar keine Frage, das merkt man sofort. „Wenn wir die Patienten dann mit einem Lächeln übergeben können und die dann auch noch Danke sagen, ist das einfach das Größte“, erklärt er mir die Vorzüge seines Ehrenamtes.
Seit 35 Jahren bereits kennt Gerd diese Vorzüge, angefangen hat er in der Bergwachtjugend und ist der Bergwacht bis heute treu geblieben. Eine Altersgrenze gibt es für die Arbeit bei der Bergwacht übrigens nicht. „Jeder kann das so lange, wie er sich fit fühlt, machen“, erklärt Gerd. Dreimal die Woche geht er Laufen, zehn, zwölf Kilometer. „Ich habe da einen sehr hohen Anspruch an mich, weil ich das noch lange machen möchte, denn das macht mir einfach Spaß“.
Gibt es auch etwas, was ihm an der Bergwacht nicht so gut gefällt? „Nein. Das gibt es nicht“. Kurz und bündig.
Und so werde ich Gerd schon bald wieder treffen. Beim Windenrettungstraining mit dem Hubschrauber. Mit jenen Polizeipiloten, mit denen er seinerzeit in Sachsen Menschen und Tieren das Leben gerettet hat.