BAD AROLSEN.„Du hast kein Gesicht dazu. Das liegt aber grundsätzlich an der Einstellung eines jeden Einzelnen“, Michael Seebold erklärt mir und meinem Begleiter Jan-Lucas, wie er in seinem Beruf mit belastenden Momenten umgeht. Nahezu an jedem Tag hat er mit Menschen zu tun, die bei ihm und seinen Kollegen/innen um Hilfe bitten, wenn Freunde, Familienmitglieder oder Passanten in lebensbedrohliche Situationen geraten sind. Michael Seebold ist einer von 13 Einsatzsachbearbeitern der Zentralen Leitstelle beim Landkreis Waldeck-Frankenberg. Er ist eine der Stimmen hinter der 112, die Hilfesuchende in absoluten Ausnahmesituationen hören.
Ruhig bleiben in absoluten Ausnahmesituationen
„Wie reagiert man da, wenn Menschen in einer solchen Situation anrufen und in Panik sind? Wie schafft man es, selbst ruhig zu bleiben und Ruhe zu vermitteln und im Idealfall auch noch zu lebensrettenden Maßnahmen anzuleiten?“ Das interessiert uns. „Hast Du einen Führerschein?“, wendet sich Michael mit einem Lächeln an meinen Begleiter und erklärt: „Überleg mal, wie Deine Fahrstunden angefangen haben. Du warst ganz aufgeregt und wärst am liebsten sofort losgefahren, musstest aber über alles Nachdenken, Kuppeln, Schalten, Blinker, Handbremse usw. Und heute? Heute steigst Du ins Auto, denkst nicht mehr weiter drüber nach und fährst einfach los. Weil Du genau weißt, in welcher Reihenfolge alles passieren muss, und wie es geht, oder?“ Jan-Lucas nickt zustimmend und hört gespannt zu, was Michael weiter berichten wird. Er erklärt uns, dass die Zentrale Leitstelle Waldeck Frankenberg im Korbacher Kreishaus, in der er arbeitet, Computer unterstützt ist und ihm und seinen Kollegen dieses System bei der Arbeit hilft. Hierdurch wird es den Einsatzsachbearbeitern ermöglicht, sehr gezielte Fragen zu stellen und den Anrufern am anderen Ende ganz genaue Anweisungen zur Hilfe zu geben. „Das können wir nutzen, müssen wir aber nicht. Vieles geht auch einfach von ganz alleine“, berichtet uns Michael. „Das müsst ihr euch vorstellen, wie eine Schublade, die man aufzieht und man weiß genau, was man rausnehmen muss“, schafft er einen bildlichen Vergleich. Dieser bildliche Vergleich, so erklärt er uns, sei auch etwas, was ihm bei jedem Einsatz sehr viel helfe: „Ich versuche, mir die Situation an der Notfallstelle immer bildlich vorzustellen. Dann weiß man auch genau, was da jetzt geschehen muss“, macht der Vater zweier Kinder deutlich. Dabei, so erklärt er weiter, helfen ihm aber auch das medizinische Hintergrundwissen und auch das Wissen aus der Feuerwehr.
Beide Bestandteile braucht man, um als Einsatzsachbearbeiter Dienst tun zu können. Michael fährt dazu regelmäßig im Jahr auch Einsätze im Rettungsdienst mit. Dort ist der gebürtige Fürstenberger aber ohnehin ein „alter Hase“: Denn bevor er in 2011 zur Leitstelle Waldeck-Frankenberg kam, hat er in seiner heutigen Heimatstadt Bad Arolsen 12 Jahre lang hauptamtlich beim Rettungsdienst gearbeitet. Und auch in der Feuerwehr kann der Rettungsassistent auf lange Erfahrung zurückblicken: „Ich bin seit meinem 10. Lebensjahr in der Feuerwehr, habe klassisch in der Jugendfeuerwehr angefangen. Das ist jetzt bald 35 Jahre her“, erklärt uns der gelernte Forstwirt. Über den Wehrersatzdienst für die Bundeswehr und die Winterzeit, in der er im Wald keine Arbeit hatte, hat Michael seinen Weg in den Rettungsdienst und schließlich die Zentrale Leitstelle im Korbacher Kreishaus gefunden. Bereut habe er diesen Schritt niemals, versichert uns der sympathische Einsatzsachbearbeiter mit seiner ruhigen Art.
Am Telefon ein Leben gerettet
Ich spreche ihn auf einen Einsatz an, der ihn vor einigen Jahren ein wenig „berühmt machte“, und möchte von ihm wissen, ob er sich daran noch gut erinnern kann. Michael lacht. „Das fällt mir nicht schwer“, freut er sich. Ich bitte ihn, uns von diesen Eindrücken zu erzählen. „Du sitzt da kurz vor Feierabend und dann klingelt das Telefon“, beginnt er seine Geschichte. Am Telefon, da war Markus. Ein Junge von damals neun Jahren, der dem Familienvater schilderte, dass sein kleiner Bruder Rudi, zwei Jahre alt, in den Pool gefallen war und keine Regung mehr von sich gab. „Der Junge war sehr aufgeregt, hatte große Angst um seinen kleinen Bruder“, weiß Michael noch. Sofort gab er seinem Kollegen per Handzeichen zu verstehen: „Hier müssen wir sofort umdisponieren und Einsatzkräfte hinschicken“. Eigentlich, so erzählt uns Michael, war der Notarztwagen bereits zu einem anderen Einsatz unterwegs und ein anderer Notarzt hätte von weiter weg kommen müssen. „Wir haben dann diese Einheit RTW und NEF getrennt und haben den Rettungswagen ohne Arzt zum laufenden Einsatz weiterfahren lassen und den Notarzt sofort zu Markus und Rudi geschickt“, erklärt er. Michael blieb aber nicht untätig: Er hat Markus und seine Oma angeleitet, dass sie den kleinen Rudi aus dem Pool ziehen und ihn auf die Seite drehen müssen. Zusammen mit seiner Oma, die kein Deutsch sprach, hat Markus diese Anweisungen alle befolgt und seiner Oma immer übersetzt, was Michael ihm gesagt hat. „Dreh ihn auf die Seite. Kommt Wasser aus seinem Mund? Ist Rudi blau, atmet er noch?“, die Beantwortung dieser Fragen machen dem Einsatzsachbearbeiter sofort klar: Rudi muss dringend beatmet werden. Über Telefon erklärt er dem Jungen in einer Seelenruhe, wie er das jetzt machen muss. Notarzt, Rettungswagen von außerhalb, Polizei, Rettungshubschrauber – sie alle sind zu dieser Zeit bereits unterwegs, um Markus und seine Oma zu unterstützen, das Leben von Rudi zu retten. Keine vier Minuten nach dem Notrufeingang trifft bereits der sehnsüchtig erwartete Notarzt an der Einsatzstelle ein. „Und da hat Rudi wieder geschrieen. Das konnte ich durchs Telefon hören. Da fallen einem aber gleich mehrere Steine vom Herzen. Vor allem, wenn man selbst Papa ist“, gesteht Michael uns mit strahlenden Augen. Der Einsatz war damit für den Familienvater aber keineswegs beendet: „Als ich die Leitstelle zum Feierabend verlassen habe, wusste ich ja, wo die Einsatzstelle ist. Ich wusste auch, dass die Kollegen noch da waren. Ich wollte Markus unbedingt sagen, wie toll er das gemacht hatte und was er da geleistet hat“, erinnert sich Michael und erzählt weiter: „Ob ich nun rechts rum, oder links rum fahre, das war doch egal“. Kurze Zeit später kam Michael an der Einsatzstelle an. „Der kleine Rudi hat den ganzen RTW zusammen gebrüllt. Der wollte ja da gar nicht rein“, freut er sich. Vor Ort hat er seinen „Partner“ Markus getroffen, mit dem er zusammen das Leben des kleinen Rudi gerettet hatte. „Ich bin der, mit dem Du gerade telefoniert hast“, stellt er sich dem jungen Helden vor. Auch die Mutter der beiden Jungs ist inzwischen wieder zu Hause und Michael tröstet und beruhigt sie vor Ort. Rudi wird ins Krankenhaus gebracht und überlebt den Unfall ohne Folgen. „Wir haben heute immer noch Kontakt. Wir telefonieren und schreiben uns öfter“, freut Michael sich, als er seine Geschichte erzählt.
Nach diesem beispiellosen Einsatz hatte es auch eine sehr ausführliche Berichterstattung gegeben. Michael und sein Partner Markus wurden mit zwei Preisen ausgezeichnet und waren oft in der Öffentlichkeit präsent. Doch nicht nur das: Dieser Einsatz sei auch Anlass gewesen, die Schulung des Leitstellenpersonals und die Überarbeitung der Computersysteme in vielen Leitstellen voran zu treiben, erklärt Michael. Auf die Anleitung am Telefon sollte ein noch größerer Maßstab gelegt werden.
Rückblickend und bescheiden sagt Michael uns: „Man weiß, dass man alles richtig gemacht hat – und wenn es nur telefonieren war“. Man hat tatsächlich das Gefühl, dass das Glücksgefühl von jenem Sommerabend auch heute noch mal auf alle überschlägt, die am Gespräch beteiligt sind. Es freut uns sehr, dass wir so einen Helden persönlich treffen und befragen durften. Auch, wenn er das sicher nicht so gerne hört. „Das war der Job. Keine Frage“, sagt Michael. Aber er resümiert auch: „Man sieht aber auch, was man erreichen kann, wenn man ein wenig über den Tellerrand hinaus schaut“, verrät er auch mit ein wenig Stolz. Denn die Anleitung von Maßnahmen war damals keineswegs verpflichtend. „Nur“ Hilfe zu schicken, wäre damals auch ok gewesen.
„Ich bereue nichts“, freut sich Michael, als ich ihn frage, ob er sich diesen Beruf erneut aussuchen würde. „Du kannst sehr früh eingreifen“, macht er noch einmal deutlich. Zudem könne er weiterhin immer weiter Erfahrungen im Rettungsdienst und der Feuerwehr sammeln. „Es greift alles wie ein Zahnrad ineinander“, erklärt er. Alle Einsatzsachbearbeiter der Zentralen Leitstelle im Kreishaus Korbach sind eine Führungsunterstützung für alle ehrenamtlichen und hauptamtlichen Einsatzkräfte des Rettungsdienstes und der Feuerwehr draußen vor Ort: „Wir organisieren, was an der Einsatzstelle gebraucht wird. Wir sind weisungsbefugt, bis die Kräfte eintreffen. Danach wendet sich das Fähnchen. Was die Kollegen an der Einsatzstelle benötigen, müssen wir organisieren! Und wenn es noch so etwas Unmögliches ist, dann müssen wir sehen, wie es dahin kommt“, lacht er.
Wir möchten noch wissen, ob es neben dem tollen Erlebnis mit Markus und Rudi noch weitere Einsätze gibt, an die er sich noch gut erinnern kann. Michael nennt uns den Karnevalsunfall in Volkmarsen, der Anfang des Jahres geschah: „Da war ich gerade beim Renovieren und alle Einsatzsachbearbeiter, die im Frei waren, wurden in die Leitstelle alarmiert. Da bin ich mit Farbe an mir und in Baustellenkluft los, um in der Leitstelle zu unterstützen“, erinnert er sich. „Das war aber nichts, was mich aus der Fassung gebracht hat“. Nur betroffen und fassungslos, hat es den Familienvater gemacht, genau wie viele seiner Kollegen. „Alle haben diesen Einsatz aber trotzdem professionell abgearbeitet - ob an der Einsatzstelle oder im Hintergrund - die Zusammenarbeit aller beteiligten Hilfsorganisationen hat reibungslos funktioniert“, schildert er.
Belastende Einsätze im Feuerwehrdienst
Dann wird es kurz ruhig und Michael erzählt uns, dass es auch Feuerwehreinsätze gibt, die ihm in Erinnerung geblieben sind: „Das waren ein Unfall mit getöteten Feuerwehrkameraden,oder Einsätze bei denen man die Menschen kennt“. Auch die Einsatzleitung beim Großbrand des Baumarktes im Mengeringhausen sei ihm bis heute in Erinnerung. Zum Schluss fragen wir Michael, wie eigentlich alle Akteure unserer Serie, was er in „seinem“ Artikel unbedingt lesen möchte. Michael hat eine Bitte an alle Menschen, die seine Geschichte hier lesen und die in einer lebensbedrohlichen Situation bei ihm anrufen:„Leisten SIE Erste Hilfe“ Lassen Sie sich auf die Fragen ein. Warten Sie auf die Fragen der Kollegen und machen Sie möglichst genaue Ortsangaben.Achten Sie nicht nur auf das Navi, sondern auch auf die Ortsschilder und wissen Sie immer, wo Sie sich gerade befinden. Die genaue Ortsangabe ist das Wichtigste, was wir benötigen“. Welche Hobbies hat der Bad Arolser eigentlich noch neben dem Feuerwehrdienst und dem Beruf: „Ich grille sehr gerne mit Freunden“, freut er sich. Und weiter erzählt er uns, dass es sonst außer der Feuerwehr eigentlich nichts gebe.
Nach einem rund zweistündigen Gespräch gehen wir noch gemeinsam vor die Fahrzeughalle der Feuerwehr, um ein Foto zu machen. Die Drehleiter soll es sein. „Die fahre ich meistens“, strahlt Michael, als er sich für uns in Position stellt. Dann endet unser Termin und mit einem freundlichen Winken verabschieden wir uns von einem tollen Menschen und gönnen ihm ein wenig Ruhe, bis es für ihn wieder heißt: „Notruf Feuerwehr und Rettungsdienst, Wo ist der Notfallort?“